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Pubertät: Chaos im Kopf

Illustration Pubertät

Fotos: Katharina Bitzl Text: Inge Bäuerle/Brigitte Bonder

Wenn sich der Nachwuchs in eine Mischung aus Blaustrumpf und Anarchist verwandelt, ist sie da: die Pubertät, die Pickel und Spannungen in der Familie wachsen lässt.

„Mamaaaa! Wo ist mein Hoodie?“ – „Der ist in der Wäsche. Brauchst du den jetzt?“ Im Wohnzimmer laufen die „Tagesthemen“ und Nele (15) ist wutschnaubend auf dem Weg zur Haustür. „Wo gehst du hin?“, ruft die Mutter hinterher. Doch Nele zieht die Turnschuhe an und hat schon die Klinke in der Hand, als sie „Raus. Leute treffen“ blafft. „Wie, raus? Heute ist Mittwoch! Und welche Leute treffen?“ ‒ „Kennst du eh nicht.“ Rumms, fällt die Tür ins Schloss. Sabine (46), Neles Mutter, bleibt die Spucke weg. Dass sie in den Augen ihrer Tochter keinen Geschmack hat, trägt sie mit Fassung. Und dass sie statt einer Antwort entweder ein Augenrollen oder ein „Chill mal dein Leben!“ erntet, ist sie gewöhnt, seit Nele elf ist. Damals hat sie begonnen: die Zeit, die man Pubertät nennt, in der sich der Kinderkörper wandelt und in der die Laune so unversehens in den Keller rutscht, dass es die Eltern nicht tröstet, gerade „nur eine Phase“ miterleben zu dürfen. Die Pubertierenden leiden nicht weniger. „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“, hieß das in der Zeit, in der man den Reifeprozess besonders bei jungen Mädchen auch „Backfischzeit“ nannte. Weil in einem Erwachsenenkörper eine Kinderseele steckt oder andersherum und man häufig nicht weiß, wer gerade am Ruder ist.

Der Körper gedeiht

Die körperliche Wandlung beginnt häufig zwischen zehn und zwölf Jahren mit einem Wachstumsschub an Händen und Füßen. Dann werden Arme und Beine lang, und erst wenn der Rumpf wächst, stimmen die Proportionen wieder. Ab einer bestimmten Reife des Skeletts werden vermehrt Geschlechtshormone ausgeschüttet. Und meist sprießen, bevor man sich an das veränderte Aussehen gewöhnt hat, schon Körper- und Schamhaare sowie Pickel. „Jungen bekommen eine tiefere Stimme und breitere Schultern, der Bartwuchs beginnt und es gibt den ersten Samenerguss. Bei Mädchen entwickeln sich die Brüste und die Periode setzt ein“, erläutert Dr. Till Reckert, stellvertretender baden-württembergischer Landesvorsitzender des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Mädchen sind im Schnitt übrigens zwei Jahre früher dran als Jungen. Warum? Die Fruchtbarkeit setzt ein, wenn der Anteil des Körperfetts um die 17 Prozent erreicht hat. Das geht schnell, weil unsere Nahrungsmittelversorgung so reichhaltig ist. Deshalb menstruieren Mädchen heute im Schnitt mit zwölf Jahren zum ersten Mal – und nicht mit 14 bis 17 wie noch vor 50 Jahren.

Ilustration körperliche Veränderung in der Pubertät
Die körperliche Veränderung startet häufig im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren.

Der Geist nimmt zu

Doch auch der Kopf macht Riesenfortschritte: „Lange wurde geglaubt, das menschliche Gehirn sei mit etwa zwölf Jahren ausgereift“, sagt der Psychologe Peter Uhlhaas von der Berliner Charité: „In Wahrheit vollzieht sich danach noch ein gewaltiger Wandel.“ Das Gehirn strukturiert sich um: Bis zu 30 000 nicht benötigte Nervenverbindungen sterben während der Pubertät pro Sekunde ab. Dafür vernetzen sich die übrigen Neuronen umso stärker. Vor allem im vorderen Gehirnbereich, der Entscheidungen, planvolles Verhalten und Motivation koordiniert, sowie im Gefühlszentrum. Dieser Prozess steigert Gedächtnis-, Denk- und Sinnesleistung: In keiner anderen Lebensphase schneiden Probanden in vielen Tests besser ab, lassen sich Talente nachhaltiger fördern. Zudem sind Teenager origineller, kreativer, idealistischer als Erwachsene und – manchmal sehr zu deren Leidwesen – eher bereit, zu diskutieren, Neues auszuprobieren.

Die Seele wackelt

Den Startschuss für die emotionale Achterbahnfahrt gibt, wie für die körperliche und geistige Entwicklung, der Hypothalamus, ein winziger Teil des Gehirns, der die Ausschüttung von Hormonen auslöst. Die Folgen stellen nicht selten die Nerven aller Beteiligten auf die Probe. Wie Sabine kennt auch Christian (52), Vater von zwei Teenies, die Tiefpunkte: „Die Mädels kommen an den Esstisch, sind stinkig und keiner weiß, warum“, sagt er. Spreche man sie an, ernte man ein „Lass mich in Ruhe!“. Auch grundlose Tränenausbrüche seien an der Tagesordnung. „Väter tendieren dann dazu, den Kopf in den Sand beziehungsweise in die Zeitung zu stecken“, bekennt er, „Mütter rennen hinterher und wollen reden.“ Das führe nicht selten zu Türenschlagen und Geschrei. Dabei beruhigen sich die Kinder meist schneller als die Eltern. Deshalb lautet Christians Fazit: „In Ruhe lassen und abwarten. Manchmal wollen die Kinder reden und über Gott und die Welt diskutieren.“ Und dabei brauchen sie einen Sparringspartner. „In der Pubertät machen die Persönlichkeit und der Charakter einen großen Entwicklungsschub zu mehr Eigenständigkeit“, erläutert der Kinderarzt Reckert. „Viele Jugendliche lehnen die Eltern ab, um sich zu lösen und den eigenen Weg für sich zu finden.“ Sprich, Mama oder Papa sind nicht „krass stressig“, weil sie es wirklich sind, sondern weil das Kind konzentriert versucht, sein Ding zu machen.

Illustration Konflikte in der Pubertät
Die Pubertät stellt nicht selten die Nerven der ganzen Familie auf eine große Probe.

Große Risiken für den großen Kick

Und warum kann das gefährlich werden? Hier kommen die neuronalen Umbauprozesse ins Spiel: Sie sorgen dafür, dass Gefühle und Erlebnisse nicht so intensiv wahrgenommen werden wie in der Kindheit. Deshalb gehen viele Teenager größere Risiken für einen „Kick“ ein. Davon weiß Sabine ein Lied zu singen: Im vergangenen Jahr kam Nele auf die Idee, sich abends vor dem Supermarkt zu postieren und erwachsene Einkaufende zu fragen, ob sie ihr eine Flasche Wodka mit rausbringen. „Das Thema Sucht gehört ins Jugendlichenalter“, sagt Till Reckert. „Viele beginnen das Rauchen zwischen zwölf und 21 Jahren, auch Alkohol und Drogen können ein Problem sein.“ Christians Sohn zockte wie viele andere suchtmäßig am Computer: „Alle Verbote und Restriktionen halfen nichts.“

Abstoßend und anziehend zugleich

Aktuell verbringen junge Menschen mindestens drei bis vier Stunden online. Zu viel, wie Experten meinen, nicht zuletzt, weil sie sich aus der realen Welt zurückzögen. Auch seien „inhaltlich problematische, teils verbotene und daher umso reizvollere Inhalte recht barrierefrei erreichbar“, sagt Reckert. Dies falle wiederum auf fruchtbaren Boden: „Jugendliche finden Gewalt oder Pornografie oft abstoßend und doch anziehend zugleich.“ Fest steht, sie sollten mit solchen Erlebnissen nicht allein bleiben. Denn viele psychische Erkrankungen beginnen in der Pubertät. Es geht also auf beiden Seiten ums Verständnis. „Eltern sollten sich ganz offen danach erkundigen, was die Kinder bewegt“, rät Till Reckert. „Immer im Gespräch bleiben“, ist Christians Tipp. Er empfiehlt „gemeinsam organisierte Freizeit und Urlaube“, aber auch „Mahlzeiten und Pflichtveranstaltungen wie Großelternbesuche oder Geburtstagsfeiern“. Maike (50) findet nach 21 Jahren Jungs-Erfahrung „Gelassenheit und Vertrauen“ ganz essenziell. Hilfreich seien Regeln, sagt sie: „Wer bei Freunden übernachten will, schreibt wenigstens, dass alles in Ordnung ist und er zum Frühstück wieder da ist.“ Hier spiegelt sich vielleicht das wichtigste Element einer guten Eltern-Kind-Beziehung: die Balance zwischen Halten und Loslassen, Kontrolle und Vertrauen. Jugendliche verlangen mehr Freiraum, benötigen aber auch Grenzen. Und auch wenn es oftmals nicht so aussieht: Ein Kind braucht in der Pubertät seine Eltern. Liebevoll und unsichtbar, aber mehr denn je.

Check-Up: Gesund durch die Pubertät

Auch wenn sich die meisten Teenager medizinisch gesehen ganz normal entwickeln, ist es für Eltern ratsam, mit ihnen zur Vorsorgeuntersuchung beim Kinder- und Jugendarzt zu gehen. Beim Check „J1“, der von jeder Krankenkasse übernommen wird, untersucht der Arzt bei den Zwölf- bis 14-Jährigen neben Größe, Gewicht und Impfstatus auch den Zustand der Organe, des Skelettsystems und der Sinnesfunktionen. Die Bosch BKK übernimmt zusätzlich für 16- und 17-Jährige die Vorsorgeuntersuchung „J2“ mit Gesundheits-Check, Aufklärung über Medienverhalten, Gespräch über die sexuelle Entwicklung und den Umgang mit Suchtmitteln. Der besondere Service: Versicherte werden automatisch an die J1 und J2 erinnert. Als Belohnung können die Jugendlichen an einer monatlichen Verlosung von je fünf Gutscheinen im Wert von 20 Euro teilnehmen.